Mit der Kamera entschleunigen

Wenn jemand gerne fotografiert, ist achtsames Fotografieren eine sehr effektive Möglichkeit, sich zu entspannen, sich zu zentrieren und dem Alltagsstress zu entkommen. Dabei geht es nicht nur um das Aufnehmen eines Motivs mit der Kamera, vielmehr um das bewusste Wahrnehmen eines Motivs – mit allen Sinnen –, um es dann mit der Kamera festzuhalten. Auf diese Weise bekommen Bilder eine Tiefe, die sowohl den Fotografen also auch den Betrachter berühren.

Eiskristalle an Blättern, Sandra IlmbergerViele fotografieren heute einfach drauf los, ohne nachzudenken, ohne innezuhalten, bis die Speicherkarte voll ist oder das Handy glüht. Wir haben uns zu Foto-Jägern und -Sammlern entwickelt. Leider verschwinden die meisten dieser Bilder ungesehen auf der Festplatte oder gehen unter in den über 350 Millionen Bildern, die täglich auf Facebook landen.

Die Art, wie wir fotografieren, ist ein Spiegel unseres Alltags: zunehmend hektischer, unkonzentriert, ein „Nebenbei-Geknipse“. Das Handy zu jeder Zeit griffbereit, für den Fall, dass zufällig irgendwo ein vermeintlich interessantes Motiv lauert. Wir lassen uns dazu animieren von all den Bildern, die uns Tag für Tag über die Medien und sozialen Netzwerken überfluten, ebenfalls eine Flut an Bildern zu erstellen. Sei es der Schnappschuss vom Sonnenaufgang auf dem Weg zur Arbeit, die Brotzeit mittags im Biergarten oder die Katze abends zuhause auf dem Sofa.

 

Emotionslose Schnappschüsse aus der Hüfte geschossen

Immer häufiger sehe ich Menschen, die für eine Aufnahme nicht einmal mehr stehen bleiben. Da wird im Weitergehen das Handy gezückt und ein Foto gemacht. Ohne anzuhalten. Ohne innezuhalten. Man nimmt sich keine Zeit für eine Aufnahme. Pusteblumen im Abendlicht, Sandra IlmbergerDoch hat so ein „Nebenbei-Foto“ wirklich eine Seele? Ein Motiv, das eine Emotion in uns auslöst? Vielleicht dann, wenn wir schnell noch einen Instagram-Filter drüber legen? Ein bisschen Retro hier, etwas Tönung da – und schon haben wir ein Bild, das eine Emotion auslösen soll? Nur, ist dieses Gefühl häufig genauso flüchtig wie das im Vorbeigehen gemachte Bild.

Dabei kann Fotografieren so entspannend sein, uns aus dem hektischen Alltag herausnehmen und entschleunigen. Nämlich dann, wenn wir uns auf den Moment einlassen, aufmerksam wahrnehmen, die Umgebung auf uns wirken lassen und wir, ohne gleich auf den Auslöser zu drücken, erst einmal innerlich auf das Motiv fokussieren. Dann nämlich ist für ein paar Momente lang alles um uns herum unwichtig. Wir beginnen, die Schönheit und Vergänglichkeit des Motivs und des Augenblicks wahrzunehmen. Das ist der Punkt, an dem Spannung und Stress von uns abfallen und unsere Probleme klein werden oder sogar schweigen. Wir nehmen unsere Umgebung mit allen Sinnen in uns auf. Und wir sind ganz bei unserem Motiv. In diesem Augenblick. Voller Achtsamkeit.

 

Achtsam fotografieren für Bilder mit Tiefgang

Achtsamkeit bedeutet, sich ganz bewusst auf das gegenwärtige Geschehen einzulassen und es mit allen Sinnen wahrzunehmen. Gehen wir einen Schritt weiter, können wir mithilfe von Achtsamkeits- oder Konzentrationsübungen unseren Geist und das Gehirn wieder frei bekommen. Diese Praxis beschreibt die Meditation.

Föhre von unten, Sandra IlmbergerUnser Gehirn ist so entwickelt, dass es fast ausschließlich in Bildern denkt. Der Beweis? Wenn ich jetzt hier über den Sonnenuntergang am Meer oder das gemütliche Ferienhäuschen im Wald irgendwo in Schweden schreibe, laufen bei jedem unwillkürlich Bilder im Kopf ab. Oder wenn Du an letztes Weihnachten, den letzten Urlaub oder auch nur an das letzte Wochenende denkst? In unserem Gehirn spielen sich Bilder ab, zu jeder Zeit. Sie haben eine unglaubliche Kraft. Erinnerungen sind Bilder von Vergangenem. Und auch wenn wir an die Zukunft denken, malen wir sie uns in Bildern aus.

Warum also sollten wir uns nicht in der Gegenwart genau diese Kraft zunutze machen, die in Bildern steckt, um unser Gehirn von all dem Stress und den alltäglichen Sorgen frei zu bekommen? Im HIER und JETZT, wie es derzeit überall propagiert wird. Mit dem Fotografieren haben wir doch ein wunderbares Mittel, um in den gegenwärtigen Moment abzutauchen und zu entschleunigen von der hektischen Betriebsamkeit in unserem Leben. Mit dem Fokussieren auf ein Motiv ist man in diesem Moment ganz bei sich selbst, Stress und Belastungen von außen fallen von uns ab. Doch wie schaffen wir das?

 

Aller Anfang ist schwer…

… und doch auch nicht. Denn zu anfangs benötigen wir noch nicht mal eine Kamera. Wolfratshausen im Wasser, Sandra IlmbergerEs beginnt mit dem Sehen, dem Wahrnehmen. Gehe einen Schritt vor die Haustür und sieh Dich um. Nimm wahr, was Du siehst, hörst, riechst und nimm zur Kenntnis, dass all dies tatsächlich existiert. Dabei kannst Du Dich bereits fokussieren, indem Du z.B. expliziert auf Formen – alles Runde oder Viereckige – vor Deiner Tür achtest. Oder alles in der Farbe Rot oder Blau. Das ist das Geheimnis – indem Du Dich auf etwas konzentrierst, was gerade in Deiner Umgebung existiert, kommst Du automatisch von dem weg, was Dich möglicherweise im Kopf stresst und negative Gedanken oder Emotionen auslöst.

In diesem Augenblick lässt Du Gedanken, Gefühle und Bilder von Erlebtem los. Und das ist der Moment, in dem Du ein Motiv zum ersten Mal „wahr“-nimmst. Auch wenn Du die Umgebung vor deiner Haustür schon zigmal gesehen hast, vielleicht schon das ein oder andere davon fotografiert hast, findest Du mit ein bisschen Achtsamkeit einen neuen Blick darauf. Wenn Du etwas neu wahrnimmst oder es ist, als würdest Du es genau jetzt zum ersten Mal in Deinem Leben betrachten, fokussierst Du neu und schaffst Dir einen neuen Zugang dazu. Weil Du Dir bewusst wirst für das, was jetzt gerade geschieht.

Unter der Baumrinde, Sandra IlmbergerDu kannst das Ganze nun weiter vertiefen, indem Du Dich beispielsweise ganz bewusst dem Thema  Bildgestaltung und Ausschnitt widmest. Dabei geht es weniger um die richtige Kameraeinstellung. Natürlich willst Du ein technisch gutes Bild machen. Aber da wären wir wieder beim „Kopf“. Viel achtsamer fotografierst Du, wenn Du Dich mit dem Herzen auf Dein Motiv einlässt und spürst, wie Du es darstellen willst. Wenn Du eine Weile bei Deinem Motiv verweilst, wirst Du Feinheiten und Dinge wahrnehmen, die Du vorher so noch nicht gesehen hast. Plötzlich erwachen Deine Neugierde und Dein Entdeckergeist. Darauf solltest Du Dich mit allen Sinnen einlassen. Dein Blick für das Motiv ändert sich. Ob Du jetzt auf den Auslöser Deiner Kamera drückst, oder das Bild nur „mit dem Herzen aufnimmst“ (also in Dein Gedächtnis), bleibt natürlich Dir überlassen. Manchmal bleiben solche Momente länger präsent und sind nachhaltiger, wenn wir sie nur mit dem Herzen fotografieren.

 

Mit der Kamera entschleunigen

Wurzeln im Licht, Sandra IlmbergerGehe einmal völlig offen und neugierig durch Deine nähere Umgebung, auch dorthin, wo Du schon häufig gewesen bist. Du wirst merken, dass Dein Blick ganz automatisch an manchen Motiven hängen bleibt, die es sich lohnt, bewusst wahrzunehmen. Vielleicht entdeckst Du an etwas völlig Alltäglichem eine besondere Schönheit oder eine ganz bestimmte Atmosphäre. Dein Bild wird diese Atmosphäre wiedergeben.

Auch oder besonders die Nutzung eines Stativs kann hilfreich sein, um noch achtsamer zu fotografieren. Allein das Aufbauen des Stativs und Ausjustieren der Kamera auf dem Stativkopf benötigt seine Zeit, manchmal auch eine gewisse Konzentration. Das alleine schon entschleunigt. Nun kannst Du in aller Ruhe Deinen Bildausschnitt wählen und auf Dein Motiv fokussieren. Führe jeden Schritt ganz bewusst aus. Dadurch bist Du noch intensiver an Deinem Motiv dran. Du wirst feststellen, dass Dich diese Konzentration weit wegbringt von Deinen alltäglichen Gedanken.

 

Die Kraft der Ruhebilder

Das achtsame Fotografieren eignet sich natürlich nicht nur zuhause, wenn wir vom Arbeitsalltag und den tausend Erledigungen allzu gestresst sind. Gerade im Urlaub, auf einer Reise oder an einem schönen Sonntagnachmittag lässt sich diese Übung wunderbar anwenden und trainieren. Mit einem tollen Nebeneffekt: wir sammeln Bilder von Momenten, die eine bestimmte Stimmung in uns auslösen. Wenn Du Dir diese Bilder später noch einmal ansiehst, kannst Du Dir diese Stimmung in Dein Gedächtnis zurückholen, mit allen Gefühlen, Gedanken und der Energie, die Du im Moment der Aufnahme hattest. Es lohnt sich also, solche Bilder auf der Festplatte in einem besonderen Ordner zu speichern, sozusagen einem Lieblingsbilder-Ordner für den späteren Schnellzugriff. Denn wenn die Zeit zum Fotografieren einmal nicht vorhanden ist, reicht auch der Anblick eines dieser Bilder, um für einen Moment Entspannung zu sorgen.

Wildkräuter und Blumen, Sandra IlmbergerIm Bereich des Entspannungstrainings, z.B. beim Autogenen Training, werden solche sogenannten „Ruhebilder“ gezielt eingesetzt, um Entspannungsreaktionen im Körper zu erleben und Stress abzubauen. Bei der Übung geht es darum, in einem entspannten Zustand Ruhebilder vor dem inneren Auge abzurufen und die Emotionen und Gedanken zu verinnerlichen, die diese Bilder bei uns auslösen. Auf unser achtsames Fotografieren bezogen ist es das, was Du in einem Moment der Aufnahme gefühlt hast. Und das kannst Du später noch einmal abrufen, wenn Du Dir diese Aufnahme am Bilderschirm oder im Ausdruck ansiehst oder auch einfach aus Deinem Gedächtnis abrufst. Solche Ruhebilder können eine enorme positive Kraft haben. Dabei muss es nicht unbedingt der Sonnenuntergang am Meer sein. Es kann das eigene Haustier, der Garten oder ein kleiner banaler Alltagsgegenstand wie z.B. die alte angeschlagene Lieblingstasse sein oder natürlich Dein „Lieblingsmensch“. So individuell ein jeder Mensch ist, so einzigartartig sind seine (Ruhe)Bilder und Perspektiven.

In diesem Sinne wünsche ich Euch viel Entspannung und einzigartige Erlebnisse, wenn Ihr das nächste Mal mit der Kamera unterwegs seid.

 

(Text/Bilder: Sandra Ilmberger)